Meine Großtante Martha Pokolm (1887-1935), die Schwester meines Großvaters väterlicherseits, hat sich im Jahre 1906, aus irgendeinem Grund, auf die lange Reise über den großen Teich nach Amerika gemacht. Sie wurde in Chicago sesshaft, heiratet dort einen Polen namens Sawatzki und brachte dort einen Sohn Chester zur Welt. Dieser Chester soll nach dem Krieg angeblich auch Carepakete an meinen Großvater in Deutschland geschickt haben.

Danach hat man nichts mehr von ihr und der restlichen Familie aus Amerika gehört!

Ende, Aus, Micky Maus!

Soweit die Fakten aus den Erzählungen meiner Verwandten über die geheimnisvolle, verschollene Tante in Amerika.

Das einzige Greifbare was ich von ihr besaß, war ein Foto aus dem Jahre 1914, auf dem Martha mit drei ihrer Kinder und ihrer Mutter freundlich in die Kamera lächelt.

Eine schöne Geschichte, aber das Ende fand ich schon immer etwas unbefriedigend. Da mich die Erzählungen über Martha seit Kind her fasziniert haben, fand ich dass es jetzt endlich an der Zeit war, das Geheimnis um Martha zu lüften.

Einen "reichen Onkel" in Amerika hat ja irgendwie fast jeder in seiner Familie, aber eine verschollene Tante ... das ist doch mal was.

Seit meinem Einstieg in die Internet-Welt im Jahre 1998, habe ich so manche Nacht damit verbracht, mit meinem zwitschernden 28K Modem und dem treuen Netscape Navigator systematisch in allen mir zugänglichen Datenbank nach Martha SAWATZKI und ihrem Sohn Chester zu suchen.

Und das war keine „mal eben Aktion“ … es hat sich also echt hingezogen.

Dann aber endlich ein Treffer!

Im Social Security Death Index, kurz SSDI, einer Auflistung von verstorbenen amerikanischen Sozialversicherten, fand ich eine Martha Sawatzki, geboren 1888, letzter Wohnsitz: Bridgeton in New Jersey. Das Geburtsdatum passte recht gut, aber New Jersey ist nun mal nicht Chicago! Da dies aber die einzige heiße Spur war, ging ich erst einmal davon aus, dass es sich hier um meine gesuchte Martha handelte. Chester Sawatzki’s gab es auch einige in der SSDI Liste, aber da mir sein genaues Geburtsdatum nicht bekannt war, gab es hier keinen Spitzenkandidaten.

Etliche Jahre später und nach vielen vergeblichen Versuchen mehr über besagte Martha Sawatzki aus New Jersey herauszubekommen, fiel es mir dann beim Durchsehen der gerade frisch online eingestellten Passagierlisten von Ellisisland wie Schuppen von den Augen. Dort war nämlich zu lesen, dass 1914 eine Martha ZAWADSKI aus Chicago mit ihren Kindern Maria, Joseph und Leo eine Reise nach Deutschland gemacht hatten.

Da war sie, meine Martha mit ihren drei Kindern, genau wie auf dem alten Foto ...

Na, wenn das nicht passt, dann weiß ich es nicht!

Also alles was mit SAWATZKI zu tun hat, kurzerhand ab in die Tonne ... war der falsche Familiennamen und ich habe jahrelang eine falsche Spur verfolgt.
Und Tschüß!

Mit dem richtigen Familienname ging es jetzt aber Schlag auf Schlag.

Die amerikanischen Volkszählungsunterlagen von 1900 bis 1940 spuckten jede Menge neue Informationen aus ... Martha hatte insgesamt 5 Kinder: Maria, Joseph, Leo, Theodore und Chester ... der polnische Ehemann hieß Bronislaw ZAWACKI ... der Familiename ZAWACKI wurde später in ZAWADZKI umamerikanisiert ... der Vorname Bronislaw in Bruno geändert ... das Paar heiratete 1908 in Chicago ... und ich hatte jetzt auf Anhieb mindestens 4 Adressen, unter denen Martha und ihre Familie in Chicago gewohnt hat.

In den folgenden Jahre wurden immer mehr Daten online gestellt und durch die dazugewonnenen Informationen konnte ich die Geschichte meiner Großtante recht gut rekonstruieren.

Letztendlich musste ich dann leider auch lesen, dass Martha bereits 1935, wegen einer Komplikation nach einer Gallenblasenoperation, gestorben war. Ich frage mich, ob ihre Schwestern und ihr Bruder in Deutschland über ihren frühen Tod Bescheid gewusst haben?

Im Jahre 2007 fand ich zu meiner Überraschung dann noch heraus, dass der jüngste Sohn Chester Raymond Zawadzki (1919-2017) noch lebte und in der Nähe von Chicago wohnte.

Nach jahrelangen Nachforschungen war das Geheimnis um Martha nun endlich gelöst und mit dieser wirklich runden Familiengeschichte über die „verschollenen Großtante in Amerika“ konnte ich jetzt gut leben.

Und ganz nebenbei ... Martha Zawadzki liebt Facebook!